Hinweise zu den akuten Krankheiten

 

·        Die Anamnese bei akuten Krankheiten ist bekanntlich meist leichter zu erheben als bei
   
 chronischen Krankheiten, da die zur neu entstandenen akuten Krankheit gehörigen Symptome
     weit mehr ins Auge fallen und der Zeitpunkt des Beginns der akuten Krankheit klar ist. Durch die
     Krankheitsgattung
 kann die Anamnese, bei gehöriger Übung, zusätzlich abgekürzt werden:
     „Bei der Erforschung vieler akuter Krankheiten kann der Arzt sich außerdem noch oft die Sache
     vereinfachen und das Krankheitsbild
 bedeutend abkürzen, wenn er die übrigens verpönten,
     aber in der vorletzten Anmerkung zum § 82 Organon
[1] (S. 157)
bedingungsweise erlaubten
     Kollektivnamen an die Spitze seines Krankheitsbildes stellt und diesen allgemeinen und
     übrigens gänzlich ungenügenden Bezeichnungen zur nötigen Individualisierung alles dasjenige
     anhängt, was den vorliegenden Fall von allen anderen, ihm sonst ähnlichen unterscheidet. Die
     Namenstäuschung hört dann von selbst auf und das aufgezeichnete Charakterbild der
     Krankheitsgattung ist hinreichend, um die Mittelwahl zu sichern.
[2]

Ist die akute Krankheit jedoch nur der akute Ausbruch einer chronischen Krankheit, ist natürlich die chronische Anamnese aufzunehmen: „Indessen gibt es auch der Fälle nicht wenige, wo eine solche anscheinend akute Krankheit nur der Beginn und Ausbruch eines chronischen Siechtums, und wo man dann später genötigt ist, das früher [in der Anamnese] Versäumte nachzuholen.[3]        

·       Als oberstes Gesetz gilt immer das Ähnlichkeitsgesetz, und deswegen muss das momentan ähnlichste Mittel, egal ob dieses ein sogenanntes akutes oder chronisches Mittel (Antimiasmatikum) ist, gegeben werden: „...es ist nicht selten der Fall, dass man bei akuten Leiden langwirkende, sowie bei chronischen kurzwirkende Mittel wählen muss, weil sie nach dem Grundprinzip der Homöopathie der Krankheit entsprechend sind. Bei diesen aber wird das kurzwirkende weit länger seine heilbringenden Kräfte äußern, als bei akuten Krankheiten, und umgekehrt jene.[4] Hahnemann hat nirgends die antipsorischen Arzneimittel von der Anwendung in akuten Krankheiten ausgeschlossen.[5] An anderer Stelle macht v. Bönninghausen allerdings eine Einschränkung: „Es ist ein unverkennbares Naturgesetz, dass langsames oder schnelles Entstehen und Heranwachsen, auch langsames oder schnelles Abnehmen bedingt...Es widerspricht daher diesem Naturgesetz, wenn man in Krankheiten die schnell wirkenden Mittel bei chronischen, und die Langwirkenden bei akuten Leiden anwendet, oder von Beiden dieselben Erfolge erwartet.[6] Bei chronischen Krankheiten werden die kurzwirkenden Mittel höchstens als Zwischenmittel anzuwenden sein (siehe unter „Wirkungsdauer der Arzneien“).    

·  Man mag nun an die, von Manchem etwas hämisch sogenannte Hahnemann'sche Psoratheorie glauben oder nicht, so wird doch schon oft dem aufmerksamen Praktiker der Fall vorgekommen sein, wo selbst das vollkommen richtig gewählte Heilmittel in irgend einer akuten Krankheit nicht eher seine gehörige Wirkung tat, als bis eins der vielfach bemängelten Antipsorika, - besonders Sulphur, - vorausgeschickt war, wenn Psora, oder ein Antisyphilitikum oder Antisykotikum, wenn Syphilis oder Sykosis früher dagewesen (und ungeheilt geblieben) war.[7]

·    So wie bei chronischen Krankheiten auch, muss bei geänderter Symptomatik im Heilverlauf immer das momentan ähnlichste Mittel gegeben werden:

...Dies schließt indessen die Notwendigkeit nicht aus, nach den wechselnden Zeichen und Symptomen ebenfalls die Arznei zu wechseln, sobald sich ergibt, dass die früher gegebene nicht mehr angemessen erscheint und daher keine weitere Hilfe leisten kann. Diejenigen Ultras unter den Homöopathen, welche die Behauptung aufgestellt haben, dass jede Krankheit, besonders eine Akute, in einer und derselben genau homöopathisch passenden Arznei jedesmal ihr vollständiges Heilmittel finde, sind daher eben so sehr im Irrtum, als diejenigen, welche bei jeder Veränderung in den Symptomen sogleich eine neue Krankheit wittern.[8]        

· Krankheitsstadium. Bei der Mittelwahl muss auch immer das momentane Krankheitsstadium mit berücksichtigt werden: Zum Aphorismus IV, 72: „Es ist böse, wenn der Harn sehr klar und blaß ist, besonders bei Gehirnentzündung“ lautet v. Bönninghausens Kommentar:

Eine bekannte Erfahrung, und ein Symptom, welches wir in der Symptomenreihe der Hauptmittel für solche phrenitische[9] Gehirnaffektionen (Bell, Hyos, Lach, Phos), kaum aber bei unserem Hauptantiphlogistikum (Acon) antreffen. Dies dient uns zum Beweis, dass das Stadium der Krankheit, wo dieses Letzte noch Erfolg verspricht, vorüber ist, sobald der Harn hell und wässrig wird. Wenn also bei dieser gefährlichen Krankheit ein solches Zeichen eingetreten ist, so wird nicht leicht, und nur bei überwiegenden andern, das letztgenannte Mittel ausschließlich charakterisierenden Zeichen, ein Homöopath dasselbe noch in Anwendung ziehen und nutzlos eine, oft unersetzliche Zeit damit verlieren.[10]

·      Bei akuten Krankheiten ist das "zu viel und zu oft" der homöopathischen Mittelgaben (betrifft C-Potenzen) weniger nachteilig als bei den chronischen Krankheiten.[11] 

·     Bei Epidemien: „...da jede solche Kollektivkrankheit erst bei näherer Beobachtung mehrerer Fälle den Inbegriff ihrer Symptome und Zeichen an den Tag legt...[12]...wobei nur ein vollständiges Charakterbild [der epidemischen Krankheit] dadurch erlangt werden kann, dass man alle charakteristischen Zeichen, die an den verschiedenen Kranken ermittelt werden können, sorgfältig sammelt und daraus ein Gesamtbild aufstellt, welches dann in untrüglicher und bestimmter Weise auf eine Arznei hinweist, die diesem ausführlichen Krankheitsbilde am besten entspricht.[13]

Bei Epidemien ist es sinnvoll ein eigenes Sammelheft anzulegen, in dem „in systematischer Reihenfolge alles eingetragen wird, was an verschiedenen Kranken vorkommt und irgend als Charakteristisch angesehen werden kann, damit man jederzeit das Ganze vor Augen habe und nicht so leicht durch das Persönlich-Individuelle auf falsche Wege abgeleitet werden könne. Denn die individuelle Persönlichkeit ist oft sehr verschieden von dem individuellen Krankheitsgenius, und wenn erstere auch häufig eine abweichende Mittelwahl zu veranlassen im Stande ist, so muss solche doch jedesmal derartig getroffen werden, dass sie innerhalb des Wirkungskreises dieses Krankheitsgeniuses liegt. - Wie sehr hierbei eine zureichende Bekanntschaft mit der Wirkungsart der unter sich verwandten Arzneien von Wichtigkeit ist, das wird jeder leicht begreifen.[14] [Nicht kursive Hervorhebungen durch den Bearbeiter]        

·  Bleiben von akuten Krankheiten sogenannte Nachkrankheiten zurück, so sind diese in selteneren Fällen entweder Folgen übermäßiger und unpassender Arzneigaben, oder weit häufiger sind dies durch die akute Krankheit geweckte chronische Krankheiten.[15]

 

 

[1] vermutlich müsste es hier § 81 heißen

[2] KMS 764 (1863)

[3] KMS 764 (1863)

[4] KMS 489 (1855)

[5] KMS 631 (1860)
[6] AHP 74 Anm. (1863)
[7] KMS 631 632 (1860)
[8] AHP 548 549 (1863)
[9] Phrenesie (griech.), im allgemeinen jede hitzige, mit Irrereden verbundene Gehirnaffektion; oft auch als gleichbedeutend mit Wahnsinn gebraucht. Daher phrenetisch (phrenitisch), s. v. w. hirnwütig, unsinnig, rasend. – Meyers Konversationslexikon, 4. Auflage, 1885-1892

[10] AHP 259 (1863)

[11] KMS 705 (1861)

[12] Organon § 101 5. Ausgabe (in KMS 766 (1863))

[13] KMS 767 (1863)

[14] KMS 768 (1863)

[15] SRA 1. Auflage XII Anm. (Mai 1832)




Ø
Die Anamnese von akuten Krankheiten kann, bei gehöriger Übung, durch Voranstellung eines
       Kollektivnamens (der Krankheitsgattung) abgekürzt werden, wenn zur nötigen
       Individualisierung alles dasjenige angehängt wird, was den vorliegenden Fall von allen
       anderen, ihm sonst ähnlichen, unterscheidet.

 

Ø Bei akuten und chronischen Krankheiten muss immer das momentan ähnlichste Mittel
       gegeben werden. Bei akuten Krankheiten wirken dann langwirkende Mittel kürzer und bei
       chronischen Krankheiten kurzwirkende Mittel länger, letztere sind dabei dann allerdings nur
       als Zwischenmittel zu gebrauchen.

 

Ø Falls bei akuter Krankheit das passendste Mittel nicht wirkt, muss erst ein Antimiasmatikum
       (falls Psora das derzeit aktive Miasma ist, oft Sulf) vorausgeschickt werden.

 

Ø Auch bei der Heilung einer akuten Krankheit kann auf Grund geänderter Symptomatik ein
       Mittelwechsel nötig sein.

 

Ø Bei der Mittelwahl muss auch immer das momentane Krankheitsstadium mit berücksichtigt
       werden.

 

Ø Bei Epidemien müssen die charakteristischen Symptome mehrerer Patienten zur Ermittlung
       des Krankheitsgeniuses gesammelt werden. Die Mittelwahl muss innerhalb des
       Wirkungskreises des Krankheitsgeniuses liegen und wird dabei durch die individuelle
       Persönlichkeit des Patienten modifiziert.

 

Ø Nachkrankheiten nach akuten Krankheiten sind häufig (durch diese) aktivierte chronische
       Krankheiten.