Bestätigung der Mittelwahl durch semiotische Zeichen




Beispiel eines semiotischen
[1] Erfahrungssatzes:

 

Aphorismus II, 35 :[2]


 
Bei allen Krankheiten ist es ein günstiges Zeichen, wenn die Nabelgegend und die Schamgegend eine gewisse Fülle hat; ein ungünstiges Zeichen aber, wenn diese Stellen mager und abgezehrt sind. Auch bei Abführungen deutet dieser letztere Umstand auf Gefahr.

V. Bönninghausens Kommentar:


...Hier ist einfach und verständlich ein Erfahrungssatz ausgesprochen, dessen semiologische[3] Erklärung wohl eben so wenig vollständig und befriedigend sein dürfte, wie die der bekannten gekrümmten Nägel bei Schwindsüchtigen. Auf dergleichen Zeichen legen aber die Homöopathen ein ganz besonderes Gewicht, weil sie wesentlich zur richtigen Wahl der Mittel beitragen, indem sie in konkreten Fällen demjenigen unter den Konkurrierenden den Vorzug einräumen, welches außer den übrigen, der Krankheit angemessenen Zeichen auch noch diese enthält. In solcher Weise werden sie überall, wo sie vorhanden, mit dem entschiedensten Nutzen, wenn auch nicht zur eigentlichen Entscheidung der Wahl, so doch mindestens zur Prüfung und zur Kontrolle derselben angewendet.[4]

 

[Eine theoretisch wissenschaftliche Erklärung dieser Phänomene wird auch heutzutage wahrscheinlich nicht wirklich befriedigend möglich sein. Aus dem Blickwinkel der Energetik der Traditionellen Chinesischen Medizin jedoch bedeutet ein eher fester, elastischer Unterbauch, unterhalb des Nabels, einen guten Zustand des Ursprungs-Qi, als Teil der Erbenergie, ist dieses Gebiet jedoch weich und schlaff, weist dies auf Schwäche des Ursprungs-Qi hin.[5] Die Nägel haben Bezug zur Leber-Energie, und zwar zum sog. Leber-Blut.[6] Die Leber-Energie ihrerseits wird von der Lungen-Energie kontrolliert. Außerdem sind Leber und Lunge durch einen inneren Ast des Lebermeridians direkt verbunden.[7]]

 

Aphorismus II, 44:

Von Natur fette Leute sind mehr als Magere einem plötzlichen Tode ausgesetzt.

Dazu v. Bönninghausens Kommentar:

 ...dass man sich wohl hüten muss, Wohlbeleibtheit mit Gesundheit zu verwechseln. Nicht nur bei akuten Krankheiten sind fette Menschen unter sonst gleichen Umständen einer größeren Gefahr ausgesetzt, als Magere, sondern auch in chronischen Leiden ist die Energie der Lebenskraft bei Jenen viel schwächer, als bei Diesen, so dass die Entscheidung und Heilung viel längere Zeit erfordert.[8]

 

 

Weitere praktische Hinweise v. Bönninghausens:

 

·        Es scheint als eine ziemlich allgemein gültige Regel anzunehmen zu sein, dass jederlei Art von dauernden, allzu flüssigen Ausleerungen, wie die der Nase, aber auch des Stuhlganges, insbesondere der zu viele Schweiß, eine mehr oder weniger schwächliche Konstitution andeuten. Wenn auch bei einigen fieberartigen Krankheiten und Entzündungen, wie z.B. bei Gehirnentzündungen, das wieder Feuchtwerden der vorher trockenen Nase, ja selbst ein eintretender Fließschnupfen, ein sehr erwünschtes Zeichen abgibt: so ist Dieses doch nicht der Fall, wenn Solcher habituell fortdauert. Ebenso verhält es sich mit den habituellen flüssigen Stuhlausleerungen, und Wer sich aufmerksam in seinen Umgebungen umsieht, Der wird finden, dass durchgängig Personen mit etwas hartem und zögerndem Stuhl einer dauerhafteren Gesundheit sich erfreuen, als die Weichleibigen.[9]

 

·        Durchfall ist eine oft mit anderen bösen Krankheiten in Verbindung stehende Beschwerde: „Überhaupt nimmt der erfahrene Homöopath niemals einen Durchfall auf die leichte Schulter, sondern legt ihm jederzeit ein weit größeres Gewicht bei, als dem zögernden, harten Stuhl, der ihm selten große Sorge macht und meistens ein Zeichen einer kräftigen Konstitution ist.[10]



Schlucksen, Schluckauf, Schluchzen in Verbindung mit Erbrechen
 ist eine gefährliche Zeichenkombination.[11]

 

 

[1] Semiotik = pathologische Zeichenlehre, die auf Erfahrung und Beobachtung beruht. Diese wird von v. Bönninghausen sehr geschätzt.
[2] Aphorismus = geistreicher, knapp formulierter Gedanke, Duden (V. Bönninghausen verwendete in seinem Spätwerk AHP die Aphorismen des Hippokrates, um in Form von Glossen dem Leser in lockerer Form seine umfassenden Erfahrungen mitzuteilen.
[3] nicht semiotische! Semiologie ist die Lehre von der theoretisch-wissenschaftlichen Erklärung der Krankheitszeichen - bzw. dem Erklärungsversuch - und wird von v. Bönnighausen nicht geschätzt.
[4] AHP 125 126 (1863)
[5] Giovanni Maciocia, „Die Grundlagen der Chinesischen Medizin“, Verlag Dr. Erich Wühr, Kötzting, 1994, S. 184-185
[6] Giovanni Maciocia, „Die Grundlagen der Chinesischen Medizin“, Verlag Dr. Erich Wühr, Kötzting, 1994, S. 84
[7] Focks, Hillenbrand, „Leitfaden TCM, Schwerpunkt Akupunktur“, Verl. Gustav Fischer, Ulm, 1997, S. 227

[8] AHP 146 (1863)

[9] AHP 352 353 (1863)

[10] AHP 97 (1863)

[11] AHP 452 (1863)