Charakteristische Symptome oder Zeichen eines Mittels


 

Hierzu ist einiges schon bei den „wichtigen, zu beachtenden Symptomen“ erwähnt worden. Allgemein gilt: charakteristische Symptome oder Zeichen[1] eines homöopathischen Arzneimittels sind für das Mittel typisch, bezeichnend, kennzeichnend, müssen aber nicht für dieses Mittel exklusiv sein. Die Kombination von mehreren charakteristischen Symptomen weist aber meist nur auf ein oder wenige Mittel hin. Symptome, die typisch sind und nur auf ein einziges Mittel hinweisen, nennt v. Bönninghausen „wahrhaft charakteristische Symptome oder „Goldkörner[2]. Sehr charakteristische Symptome oder sogar Goldkörner können jedoch nur auf ein oder wenige in Frage kommende Mittel hinweisen, immer muss aber dabei das „tout ensemble“ betrachtet und beachtet werden. Deswegen v. Bönninghausens Warnung, sich niemals auf nur ein solches Symptom zu verlassen (denn die entsprechende Rubrik könnte auch unvollständig sein, d.h. dieses Symptom könnte auch noch zu anderen Mitteln gehören, ohne dass dies gegenwärtig schon bekannt ist), falls das Mittel sonst nicht passt: „Überhaupt darf niemals vergessen werden, dass ein Symptom niemals eine genügende Anzeige geben kann, dass jedesmal der ganze Komplex der charakteristischen Krankheitssymptome dem Mittel entsprechen muss, und dass daher die angeführten Eigentümlichkeiten keineswegs jede andere Berücksichtigung ersetzen...[3]

 

 

Auf der anderen Seite können vollständige charakteristische Symptome für die Mittelwahl oft entscheidend sein: „Denn jedes einzelne, nach allen Richtungen hin vollständige Symptom kann für sich schon als eine Diagnose angesehen werden, welche eine Charakteristik eines Mittels darstellt, wie es hundert allgemeine, vielen Mitteln gemeinsame, abgerissene Symptome nimmermehr tun können."[4]

  
[V. Bönninghausens letzter veröffentlichter Satz und von ihm kursiv gedruckt !]

 

 

Hier sei noch kurz erwähnt, dass v. Bönninghausen mit zunehmender Erfahrung für die Einführung einer neuen, eindeutigen medizinischen Terminologie plädierte: „...jeder Ausdruck so muss beschaffen sein, dass er jedesmal etwas Unabänderliches und Unzweifelhaftes bezeichnet, und dass vermittelst einer diagnosisartigen Verbindung solcher Ausdrücke, wie bei der Botanik, der unterscheidende Charakter so scharf und bestimmt muss ausgedrückt sein, dass keine Verwechslung möglich bleibt.[5] Die gekonnte Verbindung von mehreren für das jeweilige Mittel charakteristischen Symptomen, ergibt dann eine kurze, aber zugleich treffende und hinreichend individualisierende therapeutische Diagnose, deren „Vorteil für die Praxis, wenn sie einmal vorhanden, unermesslich ist.[6] Die Erstellung von solchen kurzen therapeutischen Diagnosen erfordert allerdings „eben so große Umsicht, als Bekanntschaft mit den speziellen Eigenwirkungen der Arzneien[7] und ist daher nur wahren Könnern vorbehalten: „Ein in diesem Sinne ausgeführtes Werk würde von unendlicher Wichtigkeit, und als ein Systema nosologicum für den Homöopathen eben so unentbehrlich sein, als ein Systema vegetabilium solches für den Botaniker ist.[8] Solche ausgearbeiteten therapeutischen Diagnosen finden sich im HA und in KEU.

 

 

Charakteristische Symptome oder Zeichen sind z.B. die im TT46 in den beiden höchsten Graden verzeichneten Symptome oder Symptomenbestandteile[9], aber teilweise z.B. auch Symptome des TT46 in niedrigeren Graden (z.B. weil sie von v. Bönninghausen im Zuge weiterer Erfahrungen später aufgewertet wurden)[10]. Ein weiteres Beispiel für charakteristische Symptome sind die, den kurzen therapeutischen Diagnosen angehängten, für die jeweiligen Mittel „eigentümlichen und dasselbe näher charakterisierenden Zeichen[11] des HA oder, in Kombination als therapeutische Diagnose, wie oben erwähnt, die Materia medica Angaben bei den einzelnen Mitteln in KEU, hier aber nur solche, die bei Keuchhusten gerne vorkommen, bei den angegebenen „Begleitungen“ befinden sich aber auch nicht nur auf Keuchhusten bezogene Symptome, z.B. „gern Reden über fremde Fehler“[12]. Sehr viele charakteristische Symptome in Bezug auf ihre fiebererregende Kraft und den Blutlauf sind in der I. Abteilung von WF verzeichnet.[13] Ein Symptom (hier: Krankheitssymptom) kann z.B. auch dadurch charakteristisch werden, dass es einen gewissen, hohen Grad annimmt[14]. Durchgängig zu den charakteristischen Zeichen gehören, wie bereits oben dargestellt, auch ausgeprägte Modalitäten der Verschlimmerung und Besserung.  Auch Symptome und Zeichen, die sich in gleicher Weise an verschiedenen Lokalisationen oder unter verschiedenen Bedingungen wiederholen, wie z.B. die Beschaffenheit von Blutungen, gehören zu den Charakteristika[15]. Aber auch Lokalisationen[16] können, wie beschrieben, charakteristisch oder sogar sehr charakteristisch sein. Viele charakteristische Symptome und Eigentümlichkeiten durchlaufen durchgehend eine ganze Anzahl von Symptomen der einzelnen Mittel[17] und sind dadurch allgemein charakteristisch aber es gibt auch gewissermaßen speziell[18] charakteristische Symptome oder Zeichen, wie z.B. der früh sehr beschleunigte, aber abends wieder langsamere Puls von Arsenicum album[19] oder das heftige Erschrecken vor einem Schuss von Borax[20] oder die Linderung eines Trunks von kaltem Wasser, das aber sofort wieder erbrochen wird, sobald es im Magen warm wird bei Phosphorus[21]. Vor allem Zeichenkombinationen, die Ausnahmen von sonst beobachteten, gewöhnlichen Zeichenkombinationen sind, gehören zu den vorzüglichsten charakteristischen Zeichen[22].

 

Die Erkenntnis charakteristischer Symptome resultiert, wie die des Genius, der ja aus diesen abgeleitet wird, nicht alleine aus Arzneiprüfungen, sondern auch aus praktischer Erfahrung, was die Bearbeitung der Materia medica durch v. Bönninghausen, der dabei auch reichlich aus den wertvollsten Quellen seiner vieljährigen Krankenjournale schöpfte, so unentbehrlich macht: ...Dass die erwähnten eigentümlichen Zeichen noch weit entfernt sind, Alles zu erschöpfen, was in dieser Hinsicht innerhalb der Wirkungssphäre der aufgeführten Arzneistoffe liegt. Es geht dies schon daraus allein hervor, dass die Beobachtung in der Praxis vieles hierher Gehörige zu Tage gefördert und nachher als richtig bestätigt hat, wovon in den Prüfungen der Mittel an Gesunden mit keiner Silbe Erwähnung getan ist.[23] [Hervorhebung durch den Bearbeiter] So sind z.B. viele charakteristische Arten von Hustenauswurf nur durch klinische Erfahrung bekannt geworden und in den AMP mit keiner Silbe erwähnt. Das zeigt zum einen, dass neben den AMP auch die klinische Erfahrung eine wichtige Erkenntnisquelle ist, und bedeutet zum anderen, dass ein sonst passendes Mittel nicht von der Wahl ausgeschlossen werden darf, nur weil es in einer, selbst charakteristischen Rubrik fehlt, da diese ja nicht vollständig sein könnte.[24]

 

        

Auch die vorherrschende Wirkung auf die linke oder rechte Körperseite kann zu den charakteristischen Zeichen und Eigentümlichkeiten der jeweiligen Arzneimittel gehören, und v. Bönninghausen hat in zahlreichen Fällen, wo der Mangel an sonstigen entscheidenden Symptomen die Wahl der Arzneien zweifelhaft und unsicher machte, sehr erheblichen Nutzen davon erfahren.[25]

  

Allerdings gilt hier, wie auch für die später abgehandelten Verwandtschaften der Mittel, dass diese Kriterien „nur zur Beihilfe bei der Wahl der Heilmittel dienen dürfen, und dass der beständige, naturgemäße Grundsatz der homöopathischen Heillehre: Similia similibus! jederzeit und überall das oberste Gesetz ausmachen und für sich allein die Entscheidung begründen muss, wenn die Zahl der aufzufindenden charakteristischen Zeichen in Bezug auf den sonst bekannten Genius der Arznei dazu irgend hinreichen.[26]

 

Für die Mittelfindung sind die charakteristischen Symptome – wie bekannt – von ganz besonderer Bedeutung:

  

...Hierin liegt dann zugleich der Grund, daß keineswegs die Masse und Anzahl jener Symptome, wovon sich fast beständig die größere Mehrzahl bei den meisten Krankheiten, wie auch bei den Arzneiwirkungen vorfindet, sondern die Eigentümlichkeit einiger wenigen Charakteristischen den Ausschlag gibt und man in der Regel die meisten allgemeinen Zeichen außer Acht lassen darf.[27] [Hervorhebungen durch den Bearbeiter]


 

 

[1] v. Bönninghausen verwendet die Begriffe „Symptom“ und „Zeichen“ synonym

[2] AHP 559 Anm. (1863) KMS 632 (1860)

[3] KMS 523 (1856)

[4] KMS 803 (1864)

[5] AHP 457 (1863)
[6] HA XVIII (1853)
[7] ebd.
[8] KMS 414 (1850)
[9] TT46 IX in Verbindung mit XVII (Oktober 1845)
[10] KMS 739 (1862) in Verbindung mit TT46 366 (Oktober 1845) „Lage-Veränderung, Besserung durch“
[11] HA XVIII (1853)
[12] KEU XVI XVII (1860)
[13] WF V VI (Vorwort der 2. Auflage, Januar 1863)
[14] AHP 532 (1863) KMS 628 (1860)
[15] AHP 288 289 (1863)
[16] hier, und auch bei einigen anderen Aussagen, gibt es Abweichungen dazu in der vorhandenen Sekundärliteratur
[17] KMS 332 333 (1844) 743 (1862) AHP 288 289 (1863)
[18] zu speziell charakteristischen Symptomen: TT46 VI VII (Oktober 1845): „...dass das Charakteristische sich nie in einem einzelnen, auch noch so vollständigen Symptome ausspricht...“ bezieht sich hier auf Prüfungssymptome, und vermutlich, dass diesen nicht, auch wenn sie noch so vollständig wären, a priori anzusehen sei, ob sie charakteristisch sind oder nicht, bzw. ob sie dem, noch zu ermittelnden, Genius des Mittels entsprechen. Dies würde dann nicht automatisch bedeuten, dass es keine einzelnen charakteristischen Symptome gäbe. Zu KV 3 (1853): Es ist zwar wahrscheinlich, dass sich dasjenige, welches „durchgehends die ganze Reihe der Symptome jedes einzelnen Heilmittels durchläuft“ auf die „charakteristischen Zeichen“ und auf die „Eigentümlichkeiten der Arzneimittel“ bezieht, trotzdem würde ich nicht daraus ableiten, dass es nicht auch – an sich – charakteristische Zeichen gäbe (v. Bönninghausen hat ja selbst solche genannt), welche sich übrigens gar nicht immer, auf Grund ihrer Natur, durch die ganze Reihe der Symptome eines Mittels ziehen können. Mir scheint hier eher der Genius gemeint zu sein. Vgl. auch: C. Dunham in „Philadelphia Journal of Homoeopathy“  4 (November 1855, Nr. VIII) S. 452
[19] KMS 457 458 (1854)
[20] KMS 508 (1856)
[21] AHP 200 (1863)
[22] AHP 47 (1863)
[23] KMS 522 523 (1856)
[24] KMS 518 522 523 (1856)

[25] KV 3 (August 1853)

[26] KV 5 6 (August 1853)

[27] HA XXIII (1853)